Defossilierung statt Dekarbonisieren

Bei Creavis haben wir unsere Aktivitäten in drei sogenannte Incubation Cluster gebündelt, die sich jeweils auf ein übergreifendes Thema konzentrieren. Eines unserer Cluster widmet sich dem großen Ziel, den Klimawandel einzudämmen und Innovationen, die Industrien unterstützen, unabhängig von fossilen Rohstoffen zu werden. Wir haben diesen Cluster „Defossilierung“ genann – ein Begriff, der außerhalb unserer Branche noch nicht sehr geläufig ist.

Die Menschheit steht vor einem offensichtlichen Dilemma: Die Weltwirtschaft und damit Wohlstand und Wachstum für Milliarden Menschen hängen an fossilen Rohstoffen. Gleichzeitig bedroht deren allgegenwärtige Nutzung die Menschheit wie niemals zuvor. Das Verbrennen fossiler Rohstoffe setzt jedes Jahr Milliarden Tonnen CO₂ in die Atmosphäre frei und ist der Hauptgrund für den menschengemachten Klimawandel. Die Auswirkungen dieses Klimawandels drohen nicht erst in ferner Zukunft. Wir bekommen sie schon heute zu spüren, in Form von steigenden Meeresspiegeln und zunehmenden Wetterextremen mit Überschwemmungen und Dürren, die Ernten, Trinkwasser und Ökosysteme bedrohen. Es wird schmerzhaft deutlich, dass wir drastische Maßnahmen ergreifen müssen, wenn wir die Klimaerwärmung bremsen und für kommende Generationen einen bewohnbaren Planeten erhalten wollen.

Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang gern gebraucht wird, lautet „Dekarbonisierung“. Ganz wörtlich genommen suggeriert der Begriff, dass man allen Kohlenstoff aus Wirtschaft und Industrie verbannen könne. Das ist natürlich eine starke Vereinfachung der eigentlichen, ambitionierten Ziele, die sich dahinter verbergen. Genau genommen umschreibt Dekarbonisierung die Transformation von Industrien – insbesondere die der Energiewirtschaft – hin zum reduzierten CO₂-Ausstoß und letztlich zu „net zero“ und einer emissionsfreien Gesellschaft. Das lässt sich nur erreichen, indem man jene Prozesse ersetzt, die das Treibhausgas ausstoßen, und dann alle noch unvermeidbaren CO₂-Emissionen kompensiert. 

Im Energiesektor mag Dekarbonisierung ein nützlicher Sammelbegriff sein für die Fülle an Maßnahmen zur Kohlenstoff- beziehungsweise Kohlendioxidreduktion. Für die Spezialchemie aber ist der Begriff irreführend. Das liegt daran, dass Kohlenstoff ein entscheidender Baustein für jede organische Verbindung ist – und das auch immer bleiben wird. Kohlenstoff ist nicht nur die Basis für alles Leben, wie wir es auf der Erde kennen. Das Element macht zum Beispiel rund ein Drittel des menschlichen Körpergewichts aus. Es ist bildet auch das Gerüst zahlloser moderner Materialien und Verbindungen. Ein Beispiel ist Polyamid-12, ein vielseitig eingesetzter Hochleistungskunststoff. Dessen chemische Formel lautet (C12H23NO)n und verrät, dass Kohlenstoff neben Wasserstoff das häufigste Atom darin ist.

Während Kohlenstoffemissionen also zweifellos reduziert oder idealerweise ganz vermieden werden müssen, werden wir Kohlenstoffatome dennoch weiter für fast alle modernen Materialien in unserem Alltag benötigen. Deshalb bevorzugen wir in der chemischen Industrie auch den Begriff „Defossilierung“. Er beschreibt viel treffender unser Bestreben, unabhängig von fossilen Rohstoffen zu werden.

Die Strategie zur Emissionseinsparung im Energiesektor ist eindeutig: Fossile Energien müssen durch erneuerbare ersetzt werden, in der Stromerzeugung zum Beispiel mittels Wind- und Solarstrom. Sinkender Energieverbrauch durch Effizienzsteigerungen und die Einführung von alternativen Energieträgern wie Wasserstoff werden die Transformation zusätzlich vorantreiben. Die Chemieindustrie macht alles das erst möglich. So braucht eine funktionierende Wasserstoffwirtschaft zum Beispiel grünen Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Preisen. Sie braucht außerdem sichere Transport- und Speichermöglichkeiten für große Mengen Wasserstoff. Nur innovative Chemie macht das möglich. Tatsächlich treiben wir bei Creavis einige der Schlüsseltechnologien für eine zukünftige Wasserstoffwirtschaft voran. Ein Beispiel ist unsere Anionenaustauschmembran (AEM), mit der sich die Produktionskosten für grünen Wasserstoff senken lassen.

Aber Defossilierung geht viel weiter: Die chemische Industrie selbst deckt heute noch den Großteil ihres Kohlenstoffbedarfs aus fossilen Quellen. Wir müssen Alternativen auftun, um unsere Industrie nachhaltig und klimaneutral zu machen. Eine Vision ist die Kreislaufwirtschaft, in der Abfälle zu wertvollen Rohstoffen werden. So lassen sich Kohlenstoffatome in einem kontinuierlichen Kreislauf nutzen und der Bedarf nach immer neuem Kohlenstoff aus der Erde schwindet. Wieder liegt der Schlüssel dazu in der Chemie. Sie erst ermöglicht zum Beispiel die nötigen Verfahren, um alle möglichen Sorten Kunststoff zu recyceln.

Sogar Kohlendioxid selbst wird dank chemischem Erfindungsreichtum zum aussichtsreichen Rohstoff. Biotechnische und chemische Prozesse – einige davon vorangetrieben bei Creavis – erlauben es heute, CO₂ in nützliche organische Verbindungen zurückzuverwandeln, statt es in die Atmosphäre entweichen zu lassen. Neben solchen künstlichen Methoden der CO₂-Verwertung haben auch natürliche Photosynthese und damit gewonnene Biomasse das Potenzial zur großen Kohlenstoffquelle für die Chemieindustrie zu werden.

Bei Creavis haben wir einen unserer drei Incubation Cluster Innovationen gewidmet, mit deren Hilfe ganze Industrien von fossilen Rohstoffen abgekoppelt und eine klimaneutrale Wasserstoffkökonomie aufgebaut werden könnten. Getauft haben wir dieses Cluster konsequenterweise auch Defossilation.