Turbulente Zeitenwende

Seit der Inversion der Ukraine durch Russland, wurde Björn Theis, Leiter von Foresight, vermehrt gefragt, ob das "Turbulent Times" Szenario nun Wirklichkeit wird. Er antwortet nun mit diesem Artikel auf die vielen Fragen:

Russlands unrechtmäßige Invasion der Ukraine erschüttert uns alle: Die Lage wird von Tag zu Tag erschreckender. Nicht zuletzt die wiederholte Drohung vom Einsatz Nuklearwaffen einzusetzen, macht die Zukunft auch global unsicherer. Da ist es nicht verwunderlich, dass mich in den vergangenen Wochen immer öfter Kollegen innerhalb und außerhalb von Evonik fragen, ob wir jetzt schon im Turbulent-Times-Szenario leben. Kurz zur Erinnerung: Turbulent Times war eines der fünf möglichen Szenarien, die mein Team und ich für die Zukunft der Spezialchemie erarbeitet haben. Es beschreibt die Möglichkeit einer multipolaren und krisengeschüttelten Welt im Jahr 2040, wo wachsender Nationalismus weltweit die vormals liberale Weltordnung ersetzt und zu einer De-Globalisierung geführt hat. Die Wirtschaft krankt unter Handelskriegen und zunehmendem Protektionismus, während Gesellschaften in sich extrem polarisiert sind. Fakten zählen kaum noch etwas. Populisten, Autokraten und autoritäre Regime haben Demokratie, freie Presse und unabhängige Justiz zurückgedrängt. (Einen kurzen filmischen Überblick über alle fünf Szenarien finden Sie hier.)

Ich habe viel über diese Fragen nachgedacht, die in meinen Augen sehr berechtigt sind. Immerhin steuert Russlands Führung das Land und auch die ganze Welt gerade genau in die Richtung dieses Szenarios – mit schamlosen Lügen und unverblümter Geringschätzung für internationales Recht und Menschenleben. Die Weltwirtschaft ist durch den Konflikt ins Wanken geraten. In einigen Ländern ist die Grundversorgung mit Gütern, Energie und Lebensmitteln bedroht. Freie Meinungsäußerung und freie Presse wurden in Russland eingeschränkt – die Situation weckt Erinnerungen an George Orwells dystopischen Roman „1984“. Die Vorstellung ist schmerzhaft, aber in Russland müssen derzeit tausende russische Winston Smiths (die in Hauptfigur „1984“) damit beschäftigt sein laufend nationale und internationale Medien zu überwachen. Um die Wahrheit zu verfälschen blockieren, manipulieren und löschen sie Fakten und Meinungen – getreu der Maxime von Orwells Big Brother: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“

Natürlich ist Russland nicht das einzige Land, das Propaganda nutzt, um die Meinung seiner Bürger zu steuern. Die Trump-Regierung, Präsident Bolsonaro, die Brexit-Bewegung im Vereinigten Königreich oder die deutsche AFD sind nur einige jüngere Beispiele, für Regierungen und politische Gruppen, die es mit der Wahrheit nicht so genau nahmen, um die öffentliche Meinung zu formen und zu steuern – genau, wie es das Turbulent-Times-Szenario beschreibt.

Das alles scheint zunächst einmal für diese turbulente Zukunft zu sprechen. Jedoch muss es nicht so kommen – die Würfel sind noch nicht alle gefallen. Man bedenke, wie der Krieg den Zusammenhalt innerhalb von EU, UN und NATO weiter gefestigt hat und wie viele Länder neuerdings eine Mitgliedschaft in NATO und EU erwägen. Auch das internationale Festhalten an Nachhaltigkeitszielen und die überwältigende Hilfs- und Spendenbereitschaft der Bevölkerungen sprechen zeichnen ein anderes Bild.

Wenngleich diese Entwicklungen starke Anzeichen dafür sind, dass wir also doch nicht auf turbulente Zeiten im Jahr 2040 (der Zeithorizont aller unserer Szenarien) zusteuern, sollten wir dennoch wachsam bleiben. Es gibt keine Garantie, dass alles gut ausgeht. Im Gegenteil, die Entwicklungen zeigen eher, dass wir am Scheideweg zwischen verschiedenen Zukünften stehen. Wir sind an einem globalen Wendepunkt mit unbekanntem Ausgang angelangt. Das wirft eine weitere wichtige Frage auf: Wenn Frieden, internationale Zusammenarbeit, Freihandel, freie Presse und der Wissensaustausch doch so positiv auf die Entwicklung der Welt gewirkt haben, wie konnte es dann überhaupt so weit kommen?

Eine mögliche Erklärung habe ich im Buch „Der Zukunftsschock“ von Alvin Toffler und Adelaide Farrell aus dem Jahr 1970 gefunden. Die Autoren beschreiben darin einen bedrohlichen psychologischen Zustand von Individuen und ganzen Gesellschaften – dem Zukunftsschock. Die kürzeste Definition des Begriffs ist ein Gefühl von „zu viel Veränderung in zu kurzer Zeit“. Es ist der psychologische und physische Stress, den Menschen und auch ganze Nationen erleben, die nicht mit der Schnelligkeit sozialer und technologischer Veränderungen fertig werden. Toffler und Farrel zufolge reichen die Symptome des Zukunftsschocks von Angst, Feindseligkeit und sinnlosen Gewaltausbrüchen bis hin zu Depression und körperlichen Erkrankungen beim Einzelnen. Die Autoren schreiben, dass Gesellschaften in der Zukunft (aus Perspektive der 1970er) massive strukturelle Veränderungen durchleben werden, wenn sie sich von einer Industriegesellschaft zur „super-industriellen“ Gesellschaft entwickeln. Dieser Wandel könne Menschen und letztlich auch Nationen überrumpeln, wenn sie nicht darauf vorbereitet sind.

Das könnte eine plausible Erklärung liefern für das Verhalten, das wir bei Wladimir Putin und der russischen Führung beobachten. Mit dem nahenden Ende des fossilen Zeitalters hat Russland der post-industriellen Welt des 21. Jahrhunderts wirtschaftlich nur noch wenig zu bieten. In der Vergangenheit haben es Russlands politische Entscheidungsträger versäumt die notwendige strukturelle Transformation anzustoßen. Das Ergebnis ist, dass Russland in einer Phase langfristiger Stagnation feststeckt, so die Diagnose der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik. Ende 2021 prognostizierte auch das britische Centre for Economics and Business Research (CEBR) in seinem jährlichen Ranking der Volkswirtschaften, dass Russland es nicht vor 2036 in die Top 10 schaffen werde. Das sind schlechte Nachrichten für eine vermeintliche Weltmacht, zumal Russland diesen Anspruch mit militärischer Macht rechtfertigt. Der russischen Führung muss klar sein, dass die derzeitige Wirtschaftsentwicklung zu einem Zurückfallen auch in Rüstungsfragen führen wird.

Leidet Wladimir Putin also an Zukunftsschock? Er selbst macht jedenfalls keinen Hehl aus seiner imperialistischen Ideologie und betont Russlands vermeintlich tausendjährige Geschichte, die in seiner Vorstellung auf das Kiewer Rus zurückgeht. Es scheint, dass er sich nach einer längst verblassten Zukunft sehnt.

Wir werden wohl nie wirklich wissen, ob dieser Krieg letztlich nur ausbrach, weil ein alter weißer Mann Angst vor der Zukunft hatte und darum vor nichts zurückschreckte, um den Wandel aufzuhalten. Aber wir müssen die Möglichkeit dennoch in Betracht ziehen. Denn es könnte ja durchaus sein, dass auch andere einflussreiche Führungspersönlichkeiten wie Putin dem Zukunftsschock anheimfallen – was das Turbulent-Times-Szenario leider umso wahrscheinlicher machen würde.

Entsprechend sollten wir – allem derzeitigen Wirbel zum Trotz – zwei Fakten nicht außer Acht lassen: Erstens, dass die Zukunft nicht etwas ist, das uns einfach zustößt, sondern etwas, das wir alle miteinander aktiv gestalten. Und zweitens, dass das beste Gegenmittel gegen den Zukunftsschock eine gute Zukunft für alle ist. Das heißt, wenn die Politik, die Wirtschaft und wir – nämlich Menschen aller Nationen – zusammenarbeiten, um den Frieden in der Ukraine wiederherzustellen, die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, und sicherzustellen, dass solch ein hinterhältiger Angriff nie wieder toleriert wird, dann bin ich optimistisch, dass wir doch noch eine unbeschwerte, nachhaltige und blühende Zukunft schaffen können – hoffentlich zusammen mit Russland.