Interview

„Wir können dem Klimawandel nur gemeinsam entgegentreten“

Steffen Hasenzahl, Senior Vice President & Head of Creavis, zum interdisziplinären Ansatz von Creavis als Business-Inkubator

Herr Hasenzahl, der UN-Klimarat hat selten so eindringlich gewarnt wie im Februar 2022: Knapp die Hälfte der Menschheit ist vom Klimawandel akut bedroht. Ist es fünf vor zwölf oder schon zu spät?

Steffen Hasenzahl: Die nachdrückliche Warnung der Wissenschaftler im Auftrag der Vereinten Nationen ging verständlicher Weise komplett unter. Denn die Nachrichten wurden von den Ereignissen des Ukraine-Kriegs überschattet. Nichtsdestotrotz bleibt die Aussage richtig: Wir müssen jetzt handeln. Und trotzdem scheint es immer noch viele Menschen zu geben, die den Ernst der Lage nicht erkennen.

Sie haben sich vorgenommen, mit ihrem Team bei Creavis dem Klimawandel entgegenzutreten?

Die Welt ist in keinem guten Zustand. Die großen globalen Herausforderungen unserer Zeit brauchen neue Lösungen und frische Denkansätze. Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, sind zum Beispiel wie wir den Klimawandel eindämmen und eine klimaneutrale Wirtschaft fördern, oder wie wir eine wachsende Weltbevölkerung ernähren und gleichzeitig ein gesundes Leben in einer intakten Umwelt ermöglichen wollen. Wir müssen weg von unseren linearen Wertschöpfungsketten mit ihren riesigen Abfallbergen und unseren ökologischen Fußabdruck massiv verringern.

Sie sprechen die globalen Herausforderungen an. Was genau ist dabei die Aufgabe der neuen Creavis innerhalb von Evonik?

Wir stellen uns den weltweiten Herausforderungen, indem wir zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus den operativen Bereichen nachhaltige Lösungen für neue Märkte und sich entwickelnde Wertschöpfungsketten vorantreiben. Zum Beispiel klimaneutral hergestellter Wasserstoff. Hier entwickelt sich zurzeit eine neue Industrie – getrieben von der Notwendigkeit, CO2-Emissionen massiv zu reduzieren. Im Falle des grünen Wasserstoffs beginnend mit der Erzeugung von Strom aus beispielsweise Wind- oder Sonnenenergie, der Spaltung von Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff mittels Elektrolyse, dem technisch anspruchsvollen Transport von Wasserstoff sowie seines Einsatzes in vielen Bereichen, die bislang von fossilen Rohstoffen wie Kohle, Öl und Erdgas dominiert wurden. Dies alles muss dann nicht nur großtechnisch funktionieren, sondern auch bezahlbar sein. Evonik als ein führendes Unternehmen der Spezialchemie ist dabei „Enabler“ – ein Unternehmen, das mit seinen Produkten und Lösungen neuen Technologien erst wirklich zum Durchbruch hilft.

Wie wichtig ist das interdisziplinäre Entwickeln von Ideen und Lösungen, die einen ökologischen wie ökonomischen Beitrag leisten sollen?

Tatsächlich ist interdisziplinäre Zusammenarbeit nichts Neues für die chemische Industrie. Da wir relativ weit am Anfang einer Wertschöpfungskette stehen, spielen solche Zusammenarbeit und Kooperationen bei der Lösung von großen Herausforderungen eine zentrale Rolle. Creavis gibt es als strategische Innovationseinheit von Evonik bereits seit über 20 Jahren, und sie hat immer mit internen und externen Partnern zusammengearbeitet. Um den Herausforderungen noch effektiver zu begegnen, müssen wir noch mehr über unsere Tellerränder schauen und die kommerzielle Realisierbarkeit von Anfang an im Blick haben.

Was bedeutet das konkret?

Der Ansatz von Creavis ist branchenübergreifend und interdisziplinär. Wir gehen Partnerschaften ebenso mit Universitäten, mit Startups und mit industriellen Partnern ein, idealerweise innerhalb einer gesamten Wertschöpfungskette oder noch besser innerhalb eines Wertschöpfungskreislaufs. Darüber hinaus ist die Geschäftsentwicklung bei Creavis geprägt von Vielfalt, Zusammenarbeit und Unternehmergeist. Naturwissenschaftler und Ingenieure arbeiten bei uns Hand in Hand mit Technikern, Marketingspezialisten und Geschäftsentwicklern innerhalb von Creavis bzw. im gesamten Konzern. Alle arbeiten an dem gleichen Ziel: neue, kommerziell tragfähige Lösungen mit einem nachhaltigen Nutzen für die Gesellschaft zu entwickeln, Lösungen, die wirklichen Wert generieren.

Wie soll es nun gelingen, dass neue Lösungen und nachhaltige Geschäftsmodelle weltweit und branchenübergreifend etabliert werden? Welchen Beitrag leistet Creavis?

Es müssen alle relevanten Industriesektoren zusammenarbeiten, um nachhaltige Veränderungen zu erreichen. Am Anfang einer Wertschöpfungskette steht immer die Erzeugung von Energie und primären Rohstoffen, künftig so klimaneutral wie möglich. Für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft müssen außerdem Rest- und Abfallstoffe wieder als Rohstoffe eingesetzt werden. Hier wird die Chemieindustrie eine zentrale Rolle spielen, zum Beispiel beim chemischen Recycling von Kunststoffen, der Aufarbeitung von Altreifen, so dass daraus wieder neue Reifen hergestellt werden können, sowie der Rückgewinnung von Lithiumsalzen aus gebrauchten Lithiumionenbatterien. Das geht nur in der gesamten Wertschöpfungskette. Und die müssen wir uns unter Nachhaltigkeitsaspekten ganzheitlich anschauen. Die Aufgabe von Creavis ist es dabei, neuartige Geschäftsmöglichkeiten in neu entstehenden Märkten und Wertschöpfungsketten zu identifizieren und zu erarbeiten, am Markt zu erproben und so zu entwickeln, dass sie von einer bestehenden operativen Einheit übernommen oder Keimzelle für die Gründung einer neuen Geschäftseinheit werden.

Nachhaltigkeit ist die Balance zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialem…

… genau, weswegen wir alle drei Aspekte von vornherein berücksichtigen müssen. Deswegen haben wir uns als Business-Inkubator so aufgestellt, so dass wir ein Thema von Anfang an nicht nur unter technisch-wissenschaftlichen Aspekten betrachten, sondern auch wirtschaftliche und regulatorische Fragestellungen berücksichtigen. Und schließlich müssen nachhaltige Lösungen auch sozial verträglich sein. So beschäftigen wir uns zum Beispiel mit der Gewinnung von pflanzlichen Ölen aus Pflanzen, die nicht in Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion stehen, für die keine Wälder gerodet werden müssen und die idealerweise auf Böden wachsen, die anderweitig nicht genutzt werden können.

Müssen Sie auch Überzeugungsarbeit nach innen leisten, um das Denken und Handeln über Unternehmensgrenzen hinweg umsetzen zu können?

Eigentlich nicht! Der Purpose von Evonik „Leading beyond chemistry to improve life, today and tomorrow“ ist dabei der Nordstern für uns alle. Bei Führung, wie Evonik sie versteht, geht es um Menschen, um Leidenschaft, um Begeisterung und um Inspiration. Um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich einbringen und so dazu beitragen, die Welt mit nachhaltigen Produkten besser zu machen, die mutig sind, die Dinge neu denken und damit auch unsere Kunden weiter nach vorn bringen. Das machen wir als Creavis nicht losgelöst im viel beschworenen Elfenbeinturm, sondern im Konzert mit anderen Einheiten bei Evonik sowie mit Partnern außerhalb des Konzerns. Wir arbeiten beispielsweise mit Recyclingfirmen zusammen, mit Stromerzeugern und mit Kunststoffherstellern, um diese Bereiche der Wertschöpfungsketten abzudecken.

Was würden Sie sagen, fehlt am meisten?

Ganz selbstkritisch: Ich glaube, erstens, es fehlt uns an Geschwindigkeit. An dem „sense of urgency“. Wir müssen deutlich schneller werden. Zweitens, die verschiedenen Industriebranchen müssen noch viel enger zusammenarbeiten, und zwar bei der Schaffung der neuen Wertschöpfungsketten bzw. -zyklen. Diese kann man nur gemeinsam aufbauen. Über grünen Wasserstoff haben wir bereits gesprochen. Ganz am Anfang braucht man zum Beispiel den Windrad-Hersteller, um günstigen Strom zu gewinnen; dann das Unternehmen, das geeignete Elektrolyseure baut. Schließlich brauchen wir die entsprechenden Transportkapazitäten per Pipeline, LKW oder Schiff, sowie Einheiten, die den Wasserstoff verarbeiten können – in der Stahlproduktion, der Chemie und so weiter. Von der Chemieindustrie kommen alle für diese Wertschöpfungsschritte notwendigen Ausgangsmaterialien wie Membranen, Elektrokatalysatoren, Kunststoffe und Dichtungsmaterialien. Das muss alles zusammenpassen.

Wo stehen die verschiedenen Branchen heute im Allgemeinen?

Das Thema Nachhaltigkeit ist in der Zwischenzeit in allen Branchen angekommen. Überall hat der Wandel hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft und Lebensweise längst begonnen. Er wird die Arbeits-, Produktions- und Lieferprozesse in allen Industrien betreffen, ohne Ausnahme, gerade auch die in der chemischen Industrie. Es beginnt mit der Defossilierung der Produktion selbst, d.h. dem Ersatz von fossilen Rohstoffen. Aber es geht darüber hinaus um die Umweltverträglichkeit unserer Grundstoffe und Produkte insgesamt. Dieser Wandel ist eine immense Herausforderung – wir wollen und werden ihn aktiv mitgestalten. Dafür brauchen wir auch verlässliche politische Zielsetzungen und Rahmenbedingungen. Da wird deutlich: Wir können dem Klimawandel nur gemeinsam entgegentreten.

Dr. Steffen Hasenzahl verfügt über umfassende Erfahrungen in allgemeiner Unternehmensführung, Produktmanagement, Marketing, angewandten Technologie sowie Forschung und Entwicklung.